Wie werden wir „nach Corona“ reisen? Wie wird die Tourismuswelt aussehen? Werden die 17 Ziele der „Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung der Welt“ unsere Leitlinien sein?
CORNELIA KÜHHAS, Expertin für Nachhaltige Tourismusentwicklung und Entwicklungszusammenarbeit bei respect_NFI, & HARALD A. FRIEDL, Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus am Institut für Gesundheits- und Tourismusmanagement der FH JOANNEUM Bad Gleichenberg, wagen in ihrem Diskurs einen Blick in die Zukunft – und zeichnen durchaus kontroverse Szenarien …
Kühhas: „Corona zeigt, wie stark uns eine globale Krise als Weltgemeinschaft treffen kann. Wir bekommen aber auch eine Vorstellung davon, was der Klimawandel als globale Krise in den nächsten Jahrzehnten zerstören könnte. Das sollte uns wachrütteln!“, so Patricia Espinosa, die Generalsekretärin der UNO-Klimarahmenkonvention in einem Interview mit dem deutschen Magazin „Der Spiegel“, zitiert in https://orf.at/stories/3161302/.
Ich schließe mich Frau Espinosa an, denn ich denke auch, dass die Corona-Pandemie tatsächlich ein Weckruf auch für die Tourismusindustrie sein muss. Die Krise führt uns ja deutlich die negativen Auswirkungen – und damit auch die Grenzen – der sich in den letzten Jahren rasant entwickelnden Tourismuswirtschaft und unseres Reiseverhaltens vor Augen.
Friedl: Das wäre wünschenswert, halte ich jedoch für äußerst unwahrscheinlich. Denn schon unter normalen Bedingungen ist die Neigung zu strategischem Denken, jener vorübergehende Ausstieg aus dem Hamsterrad, um – frei nach der chinesischen Devise „Wenn Du in Eile bist, gehe langsam“ – über Sinn und Zweck einer eingeschlagenen Richtung nachzudenken, äußerst spärlich vorhanden. Dies gilt im österreichischen Tourismus besonders aufgrund unserer strukturellen Prägung durch die zahlreichen KMU. Unter Stress jedoch ist die Neigung zu selbstkritischer Reflexion noch geringer. Diese Krise verursacht gerade für die KMU massiven Stress in Form von existenziellen Bedrohungen. Dass gerade jetzt diese UnternehmerInnen reihenweise mit selbstkritischen Reflexionen beginnen, um aus der Krise eine Chance zu machen, wäre zwar höchst wünschenswert, doch die tief eingegrabenen Muster des Vertrauten und Gewohnten sowie der Blick auf historische Erfahrungen sprechen dagegen. Das Hauptproblem: Corona wird als schmerzhafter Feind betrachtet, gegen den es sich zu wappnen gilt. Corona ist zwar klein und unsichtbar, aber doch irgendwie „personalisierbar“. Doch Corona – eine konkret erfahrbare Epidemie – ist kein Klimawandel, der langsam, unsichtbar und permanent stattfindet, und das Schlimmste daran: Das Klima erwärmt sich weiter sogar während des globalen Corona-Lock-downs, weil die Emissionen sehr langfristig wirken …
Kühhas: Und gerade weil der Großteil der Unternehmen nicht „geläutert“ aus der Krise hervorgehen wird, müssen endlich politische und gesetzliche Rahmenbedingungen für die (Tourismus-)Wirtschaft geschaffen werden, die die Richtung für eine nachhaltige Entwicklung der Tourismuswirtschaft bzw. der Umsetzung der Agenda 2030 insgesamt vorgeben. In der Corona-Krise haben wir gesehen, dass – wenn eine aktuelle Bedrohung besteht – der Staat schnell reagieren und agieren kann und muss, um dieses Problem in den Griff zu bekommen, „der Markt“ wird es nicht regeln können. Die Pandemie zeigt uns wie ein Vergrößerungsglas die „Schwachstellen“ unseres Wirtschaftssystems und der Globalisierung auf – wie schnell sich das Virus aufgrund unserer Mobilität und des Tourismus auf der ganzen Welt verbreitet hat. Nun ist unser Bewegungsradius allerdings sehr eingeschränkt, und das dürfte noch eine Zeitlang so sein. Ich denke aber, dass dieses Innehalten(-Müssen) und die Entschleunigung, die damit einhergeht, dazu führen, dass das Reisen(-Dürfen) eine neue Wertschätzung erfährt, dass Reisen etwas „wert“ ist und kein alltägliches Konsumprodukt, das möglichst billig und ständig verfügbar sein muss …

Friedl: Du hast absolut Recht. Das wäre wünschenswert! Und dazu könnten Unternehmen das Ihre beitragen, indem sie ihre Produkte entsprechend innovativ weiterentwickeln.Ich kenne tatsächlich KMU, die die aktuelle Zeit nutzen, um ihre Infrastruktur im Rahmen des Möglichen zu renovieren, zu verschönern, sich besser aufzustellen. Doch deren Hauptmotiv liegt darin, wie sie nach der Krise möglichst rasch wieder möglichst effektiv Geld durch Tourismus verdienen können. Solch wirtschaftliches Denken ist grundsätzlich unverzichtbar, aber eben nicht genug. Warum ist das so?Das neurobiologische Kernproblem, das sehr oft ignoriert wird: Man kann das Nicht-Gedachte nicht denken! Womit sich Menschen noch niemals beschäftigt haben, ist als Denkmöglichkeit in den Gehirnen (noch) nicht angelegt. Wenn wir uns nun die tourismussystem-erhaltenden Ausbildungssysteme anschauen, dann finden sich dort bislang Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaerwärmung immer nur – im besten Fall – als Freigegenstand. Und wenn von Nachhaltigkeit die Rede ist, so wird auch in der Fachliteratur überwiegend von „nachhaltigem Wachstum“ gesprochen. Das sind tief eingegrabene Muster an Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen. Tourismussoziologisches Verhalten agiert im Prinzip nicht anders: Es passte sich den immer vielfältigeren Möglichkeiten an, die sich zudem auf immer größere soziale Schichten ausweiteten. Dadurch entstand eine neue Selbstverständlichkeit, jene Kultur der Mobilität. Nicht umsonst bezeichne ich Tourismus bewusst als „Geschäft mit mobilem Konsum“. Doch anstatt über Grenzen des (raschen) kulturellen Wandels zu jammern, sind wir ForscherInnen gefordert, auf die Bedingungen des Wandels zu blicken: Wir haben an der Corona-Kultur „schön“ gesehen, wie rasch sich die Menschen aus Angst vor Krankheit und Sanktionen angepasst haben. Wie wünschenswert diese Motivation war, sei dahingestellt. Doch zeigt dies deutlich, dass ohne determinierende Rahmenbedingungen, somit ohne einschneidende Gesetze, nach dem Wegfall der Einschränkungen alte Muster aufflammen werden, die noch dazu Glücksgefühle versprechen. Was folgt daraus? Ich versuche es zunächst mal mit Thesen: Der Staat muss Rahmenbedingungen setzen, die
- klimafreundlichen Urlaub attraktiver und erschwinglicher machen, während klimabelastende Urlaubsformen verteuert werden, wie Subventionen von klimaschonenden Investments, öffentlichen Verkehrsmitteln, Trainings und Zertifizierungen für das Umweltzeichen, oder die jüngste Idee, stark subventionierte Gutscheine für Urlaub in Österreich (https://www.derstandard.at/story/2000117325014/regierung-erwaegt-geschenkten-oesterreich-urlaub-fuer-helden-der-krise).
- den symbolischen Wert von regionalem Urlaub steigern. Hier wäre eine enge Verbindung mit Schulen ein Weg: fort vom klassischen Schikurs hin zu neuen Formen der naturnahen Erlebnis- und Bewegungs-Schulwoche …

Kühhas: … das wäre sicher eine gute Sache, um gerade bei den Kindern und Jugendlichen die Lust an nachhaltigem Urlaub zu wecken. Generell zu sagen „Macht nur mehr Urlaub in der Region“ kann aber auch keine Lösung sein. Denn der Tourismus ist in vielen Regionen der Welt ein wichtiges wirtschaftliches Standbein und kann auch aus entwicklungspolitischer Sicht in Ländern des Globalen Südens einen Beitrag leisten, um Wohlstand und die Lebensqualität zu steigern und zur sozialen Gerechtigkeit beizutragen – sofern er ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachträglich entwickelt wird. Abgesehen davon, dass Reisen auch den Horizont erweitert und im Idealfall eine sinnstiftende Erfahrung für Reisende und Bereiste ist … Es geht also auch um die Entwicklung der Destinationen – hier bei uns in Österreich und weltweit. Besonders von der Krise wirtschaftlich „gebeutelt“ sind Regionen, die fast gänzlich vom Tourismus leben und damit von ihm abhängig sind. Wichtig für eine nachhaltige und damit auch krisensicherere Ausrichtung ist, dass es mehrere Standbeine gibt, dass die Akteure und Wirtschaftszweige in der Region vernetzt sind, dass auf lokale Beschaffung gesetzt wird und die Wertschöpfung vor Ort stattfindet. So können lokale Märkte gestärkt und krisensicherer werden. Auch hier könnte mit staatlichen Vorgaben gelenkt werden.
Und schließlich geht es auch darum, welche Unternehmen die Krise überleben werden – hier ist die Förderpolitik der Staaten gefordert – und welche Angebote es letztendlich am touristischen Markt geben wird; es muss Kostenwahrheit geben, dass also die negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen eingepreist werden, Stichwort: Besteuerung von Kerosin, wie du schon erwähnt hast. Es muss über eine starke Beschränkung oder ein Verbot von Kurzstreckenflügen gesprochen werden, und über den raschen und effizienten Ausbau der Bahnverbindungen …
In den letzten Wochen ist von staatlicher Seite viel Geld geflossen, um die Wirtschaft zu unterstützen. Diese Überbrückungshilfen sind wichtig, doch die Zahlungen dürfen nicht nach dem Gießkannenprinzip erfolgen, sondern müssen zielgerichtet sein; es braucht klare Leitlinien, dass die Geldmittel auch im Sinn einer ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung eingesetzt werden, die bereits gesetzten Klimaschutzziele unterstützen und sie nicht konterkarieren.
Aktuell schreien ja die Fluggesellschaften nach einer staatlichen Finanzspritze. Das finde ich geradezu dreist – schließlich hat die Branche jahrelang u.a. von der fehlenden Steuer auf Kerosin profitiert und wenig Ambitionen zum Klimaschutz gezeigt. Hier unterstütze ich die Forderungen der Petition der Plattform Stay-Grounded: Steuergelder für die Rettung von Fluggesellschaften müssen an Bedingungen geknüpft werden, nämlich daran, dass der Klimaschutz und die MitarbeiterInnen im Mittelpunkt stehen! (https://stay-grounded.org/savepeoplenotplanes/)
Friedl: Frechheit siegt. Dreistigkeit ist das Erfolgsprinzip hinter dem Slogan „Too big to fail …“ Hier werden Wirklichkeiten durch ihre schlichte Behauptung geschaffen. Zudem wird das alte Totschlagargument der Arbeitsplätze zelebriert. Wie perfide dieses Argument ist, zeigte sich bereits vor 40 Jahren angesichts der Noricum-Krise, als die VÖEST Kanonen an einen kriegführenden Staat lieferte. Kreisky ließ gewähren mit dem Hinweis, sich nicht erwischen zu lassen … Heute „gilt“ Flugverkehr als „unverzichtbar“ für die als Wirtschaftswachstums-Garant apostrophierte Globalisierung, die zugleich wieder zum Ermöglicher der Corona-Krise wurde.
Fazit: Wie schon immer in der Politik, arbeiten Lobbyisten für die Durchsetzung von einzelnen, aber starken Interessen. Nun liegt es an den Lobbyisten einer zukunftsfähigen, klimaschützenden Tourismusentwicklung, dafür zu kämpfen, nicht „more of the same“ zuzulassen und entsprechende Rahmenbedingungen einzufordern. Bitte, Fridays-for-Future-AnhängerInnen, geht wieder auf die Straße. Jetzt ist Eure Zeit, jetzt ist Euer Einsatz gefragt, jetzt kann er etwas bewirken!

Kühhas: Das kann ich nur unterstützen! Wir dürfen neben dem Klimaschutz aber auch die sozialen Fragen nicht vergessen. In der Krise haben wir alle erlebt, wie wichtig die Menschen hinter den Kulissen sind – die so genannten „Systemerhalter“, im Lebensmittelhandel, bei der Müllabfuhr, im medizinischen Bereich. Das gilt ja auch für den touristischen Bereich. Hier arbeiten viele Menschen im Hintergrund, aber oft unter prekären Bedingungen. Ich erwarte mir hier von der Tourismuswirtschaft und der Politik, dass soziale Gerechtigkeit, faire Arbeitsbedingungen und die Achtung der Menschenrechte gerade jetzt und nach der Krise wieder stärker im Blick sind.Die Wochen im erzwungenen Homeoffice haben aber auch gezeigt, dass sich über das Internet ganz gut konferieren und besprechen lässt. Das lässt hoffen, dass in Zukunft verstärkt auf Videomeetings gesetzt wird und man nicht wieder schnell mal nach Brüssel fliegt für eine zweistündige Besprechung. Viele Kurzstreckenflüge könnten so vermieden werden, was letztlich ja für die Firmen auch günstiger käme.
Friedl: Videokonferenzen haben einige grundlegende Vorteile, insb. die Ersparnis von Zeit- und Reisekosten; vor allem sind Langstreckenflüge alles andere als lustig (in der Economy-Klasse). Doch zeigen sich insbesondere dort, wo hoher Kontextualisierungsbedarf besteht und somit ein hoher Bedarf an der Herstellung von gemeinsamen Vorstellungen, die Schwächen von großen Videokonferenzen. Dort neigen erfahrungsgemäß die zahlreichen TeilnehmerInnen dazu, entweder durcheinanderzusprechen oder vor sich hinzuschweigen. Vor allen sind derartige Konferenzen geistig extrem anstrengend. Sie sind ein bisschen wie Demokratie, definiert nach Churchill: somit eine schlechte Lösung für globale Kommunikation, aber es gibt keine umweltfreundlichere. Allerdings kann es auch sein, dass wir einfach erst lernen müssen damit gut = gelassen und effektiv mit digitalen Kommunikationsmedien umzugehen. Viele Menschen haben bis heute noch nicht begriffen, wie man E-Mails sinnvoll einsetzen kann – und wo sie überhaupt nicht „funktionieren“… Allerdings können viele Menschen auch heute noch nicht Face-to-Face konstruktiv streiten.Letztlich darf auch der Faktor Spaß bei digitaler Kommunikation keineswegs zu kurz kommen, sonst verpufft die Motivation. Ich für meinen Teil bin dank der Krise erstmals wieder mit entfernt lebenden Freunden zum abendlichen virtuellen Bier zusammengekommen, Corona sei Dank … denn auch ich lerne dazu.
Kühhas: … wie wir alle! Und ja, alles lässt sich nicht über Video machen und der persönliche Austausch von Angesicht zu Angesicht ist sehr wichtig. Ich muss aus persönlicher Erfahrung sagen, dass sich bei mir auch manchmal das „Zoom-Fatigue“-Syndrom (ja, dafür wurde schon ein neuer Begriff kreiert!) einstellt, Besprechungen per Video brauchen mitunter viel Energie …
Friedl: … ganz abgesehen vom den enormen Energieverbrauch der Server, die all die digitalen Netzwerke am Laufen halten. Gerade darin liegt eigentlich die größte, zuweilen recht frustrierende Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung: Kaum meint man eine neue technische Lösung entwickelt und verbreitet zu haben, Peng! Schon machen sich die unerwünschten Bumerang-Effekte bemerkbar. Darüber aber lästern wir in unserem nächsten Streitgespräch …
Der Diskurs wurde im April 2020 geführt.
Lesen Sie mehr zum Thema „Tourismus in der Krise?! Tourismus neu denken oder retour in alte Muster?“ in unserem Info-Mail Wissenschaft vom Mai 2020
