Ausgerechnet in dem Jahr, das die Welttourismusorganisation UNWTO zum internationalen Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung ausgerufen hat, überschlagen sich die Berichte in den Medien über die schädlichen Auswirkungen des Tourismus geradezu. Das Schlagwort des Sommers – oder besser gesagt der hashtag des Sommers – lautet #overtourism. Schlagzeilen wie „Island: Gran Canaria am Polarkreis“, „Paradise Lost: Warum der Tourismus an seine Grenzen stößt“, „Können bitte mal die Richtigen kommen“ und „An den Grenzen der Gastfreundschaft“ waren in der heurigen Ferienzeit an der Tagesordnung.
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Nun gut, Problem erkannt, Problem gebannt, könnte man nun meinen. Die vorgeschlagenen Lösungsansätze lassen allerdings auf das glatte Gegenteil schließen. Die Rede ist von Touristensteuern, Ordnungshütern, Geldstrafen bei Fehlverhalten und bestenfalls von festzulegenden Höchstbesucherzahlen. Leider schießen alle diese Ansätze weit an einer Lösung vorbei, denn das Problem sind nicht die vielen erlebniswütigen Touristen, die das Alltagsleben für Einheimische in Tourismusgebieten unmöglich machen. Das eigentliche Problem beginnt schon viel früher und hat seine Wurzeln in der fehlenden Planung von Tourismusdestinationen und dem Ausschluss der Einheimischen von Entscheidungsprozessen.

Die Geister, die ich rief …!
Hat man die Schönheit und das touristische Potenzial einer Region nämlich einmal identifiziert, wird sofort fleißig für dieses neu entdeckte Paradies geworben. Und ist die Kampagne erfolgreich, so ergeht es vielen Destinationen wie Goethes Zauberlehrling und sie stöhnen über die Geister, die sie riefen. Den meisten Grund zur Klage haben allerdings die Einheimischen. Sie sind die wahren Leidtragenden und müssen sich den Geistern stellen, die andere gerufen haben. Und hier sind wir beim eigentlichen Problem: Niemand scheint sich die Mühe zu machen, jene Menschen nach ihrer Meinung zu fragen bzw. sie in die Planung und Gestaltung ihres Lebensraumes einzubeziehen. Denn auch wenn es für viele Akteure in der Tourismusbranche vielleicht nicht deutlich genug ausgesprochen wird, Destinationen sind Lebensräume und Heimat für Menschen. Sollten diese Menschen nicht auch ein Mitspracherecht haben? Doch wie soll das gehen? Und wo ist nun die Lösung konkret zu suchen?
Das Zauberwort bitte, aber flott!
Meiner Meinung nach liegt die Lösung in der Partizipation und darüber hinaus in der tatsächlichen Entscheidungsmacht der einheimischen Bevölkerung über die Gestaltung ihres Lebensraumes als Tourismusdestination. Und noch während ich diese Zeilen schreibe, kann ich die mehr oder weniger verhaltenen Aufschreie, Seufzer und das obligatorische Augenrollen aus der Branche deutlich vernehmen. Ja, ich gebe zu, dass es angesichts der Dringlichkeit der Lange in vielen Regionen etwas naiv erschienen mag, von Partizipation und gemeinsamen Entscheidungen zu sprechen, wenn es doch dann meistens schon in der Verantwortung eines/einer einzelnen oder einiger weniger liegt, die Situation möglichst schlagartig in den Griff zu bekommen.
Die schlechte Nachricht ist, dass es kein Zauberwort gibt, mit dem man Destinationen wie Barcelona, Mallorca oder Dubrovnik wieder in die Idylle vor dem Massentourismus zurückversetzen kann – selbstverständlich mit allen wirtschaftlichen Vorteilen, die der Tourismus gebracht hat. Es gibt auch keine bequeme oder schnelle Lösung, und schon gar keine, mit der man sich beliebt macht – zumindest bei den Marketing- und Vertriebspartnern nicht.
Die gute Nachricht ist, dass nachhaltige Lösungsansätze im Sinne der Partizipation Rückenwind aus der wachsenden Nachhaltigkeitsbewegung haben. Es gibt auch schon einige sehr gute Beispiele für Reisemodelle, bei denen die einheimische Bevölkerung in die Planung und Gestaltung ihrer Destination und Produkte einbezogen wird. Und auch bei den Reisenden wird der Ruf nach sozial nachhaltigen Urlaubsdestinationen und authentischen Begegnungen mit den Menschen vor Ort immer lauter.

Selbstbestimmtes JA zum Tourismus
Diesem Ruf nach mehr sozialer Nachhaltigkeit folgen auch wir bei destination:development mit unserer Arbeit als Destinationsdesigner. Bei uns stehen die Menschen in den Destinationen im Mittelpunkt. Sie treten mit dem Wunsch an uns heran, sich mit Tourismus ein zweites Standbein aufzubauen. Im Zentrum stehen dabei immer ihre Arbeit und die Kulturen in der Region – denn Tourismus darf ihre traditionellen Lebensweisen nicht ersetzen, sondern soll sie ergänzen. Wir geben ihnen die Werkzeuge in die Hand, die sie brauchen, um das für sie beste Tourismusmodell zu finden, oder sich am Ende dagegen zu entscheiden. Ja, auch ein deutliches Nein zum Tourismus kann eine Lösung sein, denn Partizipation muss in letzter Konsequenz auch Entscheidungsmacht bedeuten. Zum Glück haben sich die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern der El Ceibo Kooperative für Tourismus entschieden, und so entstand unser Pilotprojekt, die Schokoladenstraße in Bolivien.

Auf der Schokoladenstraße
Die Kakao-Kooperative El Ceibo produziert köstliche Schokolade „bean to bar“ – also von der Bohne bis zur fertigen Schokoladentafel. Der hochwertige Edelkakao wird von den Mitgliedern der Kooperative biologisch angebaut und fair produziert, und ist schon seit geraumer Zeit entsprechend bio- und fair-trade-zertifiziert. Doch die Bäuerinnen und Bauern der Kooperative wollen mehr. Obwohl sie mit ihrem Bekenntnis zur Qualität dem harten Wind der Börsenkurse für Kakao die Stirn bieten, sollen Wohlstand und Entwicklung der Kakaoregion nicht allein vom Rohstoff Kakao abhängen. Tourismus ist das Werkzeug ihrer Wahl, und die Region hat tatsächlich viel zu bieten.
Seit 2015 begleitet destination:development die Kooperative bei den ersten Schritten auf dem Weg zur Entwicklung dieser Tourismusregion zwischen dem andinen Hochland von La Paz und der tropischen Kakaoregion von Alto Beni in Bolivien. Für uns stehen die Menschen im Mittelpunkt unserer Arbeit. Die Schokoladenstraße von El Ceibo entsteht aus dem Herzen der Kooperative und ihren Werten. Die Menschen sind stolz auf ihre Arbeit und auf ihre Schokolade. Sie identifizieren sich mit ihrem Produkt und den Werten der Kooperative und sind tief mit der Natur verbunden. Mit ihrer Arbeit und naturverträglichen Anbauweise leisten sie einen wertvollen Beitrag zum Schutz der Umwelt und der Artenvielfalt ihrer Region.

Im Tourismus sehen sie die Möglichkeit, anderen von ihrer Arbeit, aber auch von ihrer Lebensart zu erzählen und sie aktiv daran teilhaben zu lassen. Ihre Werte als Kleinbauern und Mitglieder von El Ceibo möchten sie auch im Tourismus weiterleben und vermitteln. Deswegen kommt ein Big Player als Partner für sie nicht in Frage. Sie wollen die Schokoladenstraße aus eigener Kraft entstehen lassen und nach ihren Vorstellungen gestalten. Auch vom Massentourismus wollen sie nichts wissen. Gesucht wird der Kontakt zu den Menschen. Sie sollen erfahren, woher die Schokolade kommt, die sie im Supermarkt kaufen, wie sie produziert wird und von wem.
Die Gäste sollen mit allen Sinnen erfahren, wie viel Arbeit, Wissen und Liebe zur Natur in ihrer Schokolade steckt. Natürlich soll der Tourismus außer mehr Bewegung auch Geld in die Region bringen, jedoch nicht um jeden Preis. Nun startet das Projekt in die zweite Phase und veranstaltet 2018 die erste geführte Reise zu den Wurzeln der fairen Bio-Schokolade auf die Schokoladenstraße.

Im Zuge der Arbeit mit den Bäuerinnen und Bauern vor Ort wurde deutlich, dass die Menschen der Region den Wert der Natur, ihres Produktes und ihrer kulturellen Identitäten kennen und bewahren möchten. Wirtschaftliche Entwicklung ist ihnen allen ein Anliegen, doch es ist ihnen auch ganz klar, dass diese nicht auf der Ausbeutung der Natur, ihrer Kulturen oder ihrer Werte basieren darf – eine Erkenntnis, die ich mir angesichts der diesjährigen Negativschlagzeilen zum Tourismus noch von viel mehr EntscheidungsträgerInnen wünschen würde, denn mit ihrer Ansicht aus einheimischer Perspektive sind die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern nicht allein.

Positivtrends erkennbar
Das internationale Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung ist zwar noch nicht vorbei, aber ich traue mich jetzt schon zu behaupten, dass bei aller Kritik zumindest eines gelungen ist, und zwar die Aufmerksamkeit auf die Schattenseiten des Tourismus, wie wir ihn heute betreiben zu richten. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Und dennoch gilt:
- Ja, nachhaltige Lösungsansätze sind mühsam, machen oft unbeliebt und dauern länger als uns lieb ist.
- Nein, Partizipation darf nicht vor der Entscheidungsmacht aufhören, wenn wir gesunde Systeme im Tourismus schaffen wollen.
- Ja, Veränderung ist immer ein Prozess und man beginnt am besten sofort.
Glücklicherweise haben neue, nachhaltige Ansätze für gesunde touristische Systeme und Tourismusdestinationen, wie oben erwähnt, Rückenwind vom Trend zu nachhaltiger Produktion und Konsum – auch im Tourismus. Ich werde persönlich und mit destination:development weiterhin daran arbeiten, diesen Trend voranzutreiben.
Autorin: Kerstin Dohnal
“Unmöglich!” , sagt der Verstand. “Unabdingbar!” antwortet das Herz.
Kerstin Dohnal hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht – und das gleich doppelt. Ihrer Liebe zu Sprache und interkultureller Kommunikation geht sie als Übersetzerin und Dolmetscherin nach. Ihre Leidenschaft für das Reisen und Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen lebt sie als Touristikerin und Gründerin von destination:development. Die Themen Menschenrechte und soziale Nachhaltigkeit sind ihr dabei ein besonderes Anliegen.
einfach super. Gibt es die Schokolade z.B. in Salzburg Linzergasse im Bioladen? Schade, aber die Farm von Don Sabino in Cobendo ist für mich doch etwas zu weit entfernt. Trotzdem schaue ich mir gerne Deine Berichte darüber an. Toll, das IHR BEIDE so ein Projekt betreibt. lG Gebhard