Die größte Stadt im Norden Bengalens ist den meisten Reiseführern nur ein paar Zeilen wert. Die Tipps erschöpfen sich weitgehend in Hinweisen zum Ankommen und dem schnell wieder Wegkommen. Und tatsächlich ist Siliguri hauptsächlich als Drehkreuz von Interesse – zumindest für Erholungsreisende…
Nachdem die Engländer in Darjeeling eine willkommene Sommerfrische gefunden hatten, gewann die Ansiedlung am Fuße des Osthimalaya an Bedeutung. Hier kamen die Reisenden aus Kalkutta an und von hier ging es weiter zur “Königin der Hill-Stations”. Die Hill-Cart Road, nach wie vor eine Lebenslinie der Stadt, verdankt ihren Namen den Ochsen- und Pferdekarren, die von hier gen Gebirge fuhren. Später wurden mit gewaltigem Aufwand Gleise bergan verlegt, die Geburtsstunde der Darjeeling Himalayan Railways. Aber die Kolonialherren brachten nicht nur die Eisenbahn. Um das Tee-Monopol der Chinesen zu brechen wurden große Gebiete um Siliguri mit Tee bepflanzt. Aus den dafür gerodeten Waldgebieten kam ausreichend Nachschub für einen dritten Wirtschaftszweig – Holz. Und so verdankt Siliguri sein Wachstum drei T´s: Trains, Tea und Timber – Zügen, Tee und Holz.
Bis heute zieht die Aussicht auf ein gutes Geschäft Menschen aus Nah und Fern an. Der Holzeinschlag wurde mittlerweile in vielen Gebieten dem Naturschutz untergeordnet, und die Tee-Industrie trauert besseren Zeiten nach – viele Gärten mussten geschlossen werden. Der Bahnhof von Siliguri ist von nachrangigem Interesse, seit im nahegelegenen Jalpaiguri-Distrikt ein neuer Knotenpunkt entstanden ist. Heute verdankt die Stadt ihre ungebremste Anziehungskraft vor allem ihrer Lage. Nepal, Bhutan und Bangladesh sind nur wenige Kilometer entfernt. Der komplette Nordosten Indiens mit sieben Bundesstaaten wird über einen schmalen Korridor versorgt, den Trichter von Siliguri. Zudem ist die Stadt Hauptversorgungspunkt für die Bergregionen Ostindiens. Und so fühlt man sich in Siliguri oftmals als befinde man sich in einem riesigen Baumarkt.
An den Reisenden, die zuhauf per Zug am Bahnhof New Jalpaiguri oder per Flug im Nachbarort Bagdogra ankommen, fliegen die vielen Geschäfte meist als Kulisse auf dem Weg in die Berge oder die Ebenen der Dooars vorbei. Betten, Badarmaturen, Baumaterialien und Bohrmaschinen sind als Souvenirs ungeeignet, aber dafür von umso größerem Interesse für die stetig wachsende Bevölkerung aus den Himalaya-Dörfern. Fast 500.000 Einwohner versuchen laut offizieller Statistik ein Stück vom “Wirtschaftskuchen” abzubekommen. Und neben der Tatsache, dass Siliguri hervorragend gelegen und als Fahrradstadt wesentlich geeigneter ist als Kalkutta, war es auch diese Dynamik, die uns vor einigen Monaten hierher verschlagen hat.