Manchmal, wenn ich morgens die Zeitung durchblättere, bekomme ich Angst. Nicht, dass ich mich wirklich fürchten würde; die Bedrohung ist wenig emotional. Es ist eher eine rationelle Angst. Ein Beispiel mit Ereignissen aus der xy-Kalender-Woche: In Pakistan´s Hafenstadt Karachi geraten zwei sich rivalisierende Gruppen in die Haare. In der Folge brennen Häuser, es fallen Schüsse, sieben Menschen sterben. Bei den Streitparteien handelt es sich um verfeindete Rechtsanwälte. Demokratie erfordert Einsatz, keine Frage. Aber Nahkampf als Bestandteil des Jura-Studiums, ich weiß nicht…
In Nepal sterben am gleichen Tag acht Personen bei Ausschreitungen im Vorfeld der Wahlen. Ganz friedlich mahnt derweil ein deutsch-chinesisches Forscherteam an, bessere Vorbereitungen für einen möglichen neuerlichen Ausbruch von SARS oder anderen Virus-Epidemien zu treffen. In Südasien sind in letzter Zeit zig Millionen Hühner durch Notschlachtung vom Verdacht der Vogelgrippe befreit worden. Im indischen Bundesstaat Jharkhand überleben acht Insassen es nicht, als ihr Fahrzeug an einer Straßenblockade unter Feuer genommen und angezündet wird. Militanter Widerstand als innenpolitisches Instrument. Glücklicherweise ohne Tote, dafür aber mit einigen Dutzend Verletzten, findet eine Partei-Demonstration am Stadtrand von Siliguri ihr jähes Ende. Steine fliegen und Schlagstöcke werden geschwungen. Die Organisatoren werfen der Polizei vor, eine friedliche Kundgebung in eine Straßenschlacht verwandelt zu haben. Der Vorfall spielte sich nur hundert Meter entfernt von unserer letzten Wohnung ab. Zum Glück standen keine Wahlen an, und waren keine Rechtsanwälte zugegen. In einem Dorf am Rande des nahegelegenen Nationalparks wurde ein Mann von einem wilden Büffel auf die Hörner genommen und schwer verletzt. Schweißgebadet müsste ich nun – zitternd im Lese-Sessel zusammengekauert – denken: „Man, da hast du aber übel Glück gehabt, in diesem Hexenkessel von Gewalt, unsichtbarer Infektionsbedrohung und verrückt gewordener Rindviecher wieder einen Tag durchgestanden zu haben.“
Ich lege die Zeitung beiseite, und bediene mich eines wohlduftenden Tees zur Entspannung. Draußen scheint die Sonne, die Vögel zwitschern, aus der Küche riecht es nach leckerem bengalischem Essen. Ich frage mich, ob und was wir von den Vorgängen live mitbekommen hätten, wären wir noch in der alten Wohnung. Vermutlich hätten wir es auch dort nur aus der Zeitung erfahren, wir rennen ja nicht bei jedem Sirenengeheul aus dem Haus. Und so ist vermutlich die Angst um uns bei unseren Bekannten in Kalkutta oder Sikkim größer, als hier vor Ort. Manchmal geht einem das Ferne näher. Während die Furcht vor der Vogelgrippe Reisende aus Europa ihre Urlaubspläne überdenken lässt, macht sich die Hausfrau hier Gedanken, was sie alternativ zum Hühner-Curry heute kochen soll.
Man muß sich die Frage stellen, inwieweit die Tagesmedien ein geeignetes Mittel zur Reisevorbereitung darstellen. Aufgrund von derartigen Medienberichten fordert ein Außenministerium seine Bürger auf, Reisepläne für bestimmte Gebiete zu überdenken. Die pauschale Beschreibung eines großräumigen Region als anfällig für gewalttätige Auseinandersetzungen, kommt für viele potentielle Tourismusziele einem Todesurteil gleich. Sämtliche Bemühungen, durch Tourismus in einer Region wirtschaftliche Impulse zu setzen und so soziale Spannungen – oft verursacht durch unterentwickelte Infrastruktur und ungleiche Chancenverteilung – zu mindern, sind nach der Fremdbewertung dahin. Und so werden die Zustände in dieser Region zementiert. Wenn Touristen bisher nicht Adressat von Attacken waren, so werden sie es jetzt erst recht nicht sein. Wenn wir hier über einen Bombenanschlag reden, der 700 Kilometer entfernt drei Menschenleben gekostet hat, ist das eher eine nüchterne Kenntnisnahme als eine gravierende Betroffenheit. Würde es der Besitzer des kleinen Teestandes am Nationalpark-Eingang begreifen, dass die Kunden ausbleiben, weil in einer weitentfernten Stadt, die er noch nicht einmal auf der Landkarte einordnen kann, eine Demonstration in Gewalt ausgeufert ist? Wie wäre das, wenn der Nationalpark „Hohe Tauern“ oder „Bayerischer Wald“ heißt, und die weit entfernte Stadt Heiligendamm oder Hilzenau? Würden wir dann auch zuhause bleiben? Alles eine Frage der Perspektive.
Vielleicht wird es Zeit, sich über die Grundvoraussetzung Sicherheit im Tourismus neue Gedanken zu machen. Früher sind abenteuerlustige Menschen auf Reisen gegangen, weil sie das Unbekannte und Unerwartete gesucht hat. Ein Abenteuer, bei dem gewisse Gefahren als unausweichlich akzeptiert wurden. Heute scheuen die meisten kategorisch eine Region, um garnicht erst in Gefahr zu kommen. Man ist ja informiert, es stand ja in der Zeitung. Den Flug lieber mit einer arabischen Airline und über den Golf antreten, als sich unnötig in London der Gefahr einer Attacke auf das Flugzeug auszusetzen. Oder vielleicht doch lieber mit dem Zug an die Ostsee? Die Nordsee scheidet aus. Waren dort nicht vor kurzem drei Menschen mit einer Fischvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden? Bloß kein Risiko eingehen. Ob Sri Lanka davon profitiert hat, dass es nach wochenlanger Negativ-Berichterstattung über den gefährlichen Bürgerkrieg diese Woche nicht in den Schlagzeilen war, bliebe herauszufinden. Für die großen Presseagenturen könnte eine gesteuerte Berichterstattung eine neue Einnahmequelle darstellen. Positives über ein Gebiet, Negatives über ein anderes highlighten. Potentiell steckt da viel Geld drin, vielleicht mehr als in der blumigen Reisejournaille.
P.S. Falls sich jemand beflissen fühlt, eine Verschwörungstheorie zum Thema „Informations-Terrorismus als Mittel der Destinations-Entwicklung“ – sei es in Romanform oder als Diplomarbeit – aufzuzeichnen, hätte ich gerne ein Exemplar zur Lektüre.