Beschreibt doch mal euren Alltag

So die vielfach geäußerte Bitte von europäischen Bekannten.
Als ich vor einigen Jahren von meinem ersten Indienaufenthalt zurück kam, lautete der Auftrag ähnlich. Die Südbild-Agentur in Wien war frisch aus der Taufe gehoben worden. Im wuchernden Dschungel der Bildagenturen mit den allgegenwärtigen Horror- und Elendsbildern aus Entwicklungsländern wollte sie eine neue Spezies sein. Ein Pool von Bildern, die den Alltag der Menschen im Süden darstellen. Mein Bildreservoir war groß genug, um einige Alltagsschnappschüsse beizutragen.

Vollbesetzter BusHeute fällt mir die Darstellung des Alltags viel schwerer. Mit jedem Tag schwindet die Exotik und vormals Herausragendes wird „alltäglicher“. Alltäglicher bedeutet aber im Umkehrschluss: weniger bemerkenswert, weniger fotogen, weniger nachrichtentauglich. Ein übervoller Bus mit einem Dutzend Passagiere auf dem Dach hat einen anderen Reiz, wenn man regelmäßig Bestandteil der dichtgepackten Menschmasse ist. Auch die vierköpfige Familie, die mit der Rikscha vom Großeinkauf zurückfährt, taugte vor einigen Monaten noch zum Fotomotiv. Seither war ich mehrfach selbst Mitglied einer solchen Transport-Partie.

Folge ich nun der Bitte und beschreibe meinen Alltag, so muss ich mir überlegen wie.

Eine Möglichkeit ist, dass ich allgemein und nüchtern beschreibe.

„Morgens stehe ich auf, gehe ins Bad, frühstücke, fahre mit dem Fahrrad oder mit dem Bus ins Büro, arbeite, mache Mittagspause, arbeite bis zum Feierabend, fahre heim, erzähle und lese, dann gehe ich schlafen.“

Dieser Text, obwohl er meinen Alltag ziemlich genau widerspiegelt, würde wohl als Einleitung für einen Multiple Choice Test „Wo wohne ich?“ taugen.

Oder ich beschreibe detaillierter, was die Gefahr mit sich bringt, eine Steilvorlage für vergleichende Gesellschaftskritik zu liefern:

„Lautes Hundegebell weckt mich in aller Herrgottsfrühe. Der Boiler im Bad – ohnehin ein nicht selbstverständlicher Luxus – funktioniert nicht, weil der Strom ausgefallen ist. Nach der kalten Dusche ist ein heißer Kaffee eine willkommene Wärmequelle – da ist es auch egal, dass es nur Instant-Kaffee ist. Obwohl ich es erst vor zwei Tagen aus der Inspektion geholt habe, ist der Vorderreifen meines Fahrrades platt, also bleibt nur die Fahrt im überfüllten Bus…“

Der Leser ist immer auch Richter und als solcher legt er Maßstäbe an. Schnell ist dann vergessen, dass man in einigen ländlichen Gebieten Europas froh wäre, überhaupt noch einen regelmäßigen Bus-Service zu haben. Längst ist er dem Individualverkehr geopfert worden. Oder dass ein nächtlicher Stromausfall den Radiowecker von seiner Pflicht befreit hat und deshalb Dusche und Kaffee ganz ausfallen, wie es mir in Wien mehrfach gegangen ist. Hundegebell hätte das verhindern können.

Die dritte Variante ist ein Romantisieren, was dem Leser ein ebenso blauäugiges wie unglaubwürdiges Bild präsentiert:

„Wenn zum Sonnenaufgang die Hunde fröhlich den Morgen begrüßen, fühle ich die tiefe Naturverbundenheit, die mich hier umgibt. Das frische Wasser wurde nur von Mutter Erde erwärmt – keine künstliche Energiequelle, ganz Natur. Wenn ich doch nur die noch immer ausgeprägte Neigung zum Kaffee lassen könnte. Ist ein frisch gebrühter Tee – aus biologischem Landbau in einem der nahegelegenen Gärten – nicht ohnehin ein wesentlich besseres und gesünderes Heißgetränk, um in den Tag zu starten? Ob Fahrrad oder Bus: Beides eignet sich gleichermaßen, um mich in die Lebhaftigkeit und Vielfalt des indischen Alltags zu entführen…“

Kein Lärm, kein Strom, kein Kaffee, kein hektisches Gedränge. Ein glaubhaftes Bild aus dem ländlichen Indien – Modell einsame Waldhütte in Kanada oder Finnland. Ein authentisches Bild gefühlter alltäglicher Wirklichkeit ist es sicherlich nicht. Und die Leser könnten sich veralbert vorkommen; zu Recht.

Bleibt schließlich der einigermaßen gut recherchierte Hintergrundbericht. Aber der bedeutet viel Arbeit. Arbeit, die in der täglichen Informationsflut nicht von allen Lesern gleichermaßen gewürdigt wird:

„Obwohl die Anzahl von freilaufenden Hunden – umgangssprachlich ‘Straßenköter’ – seit Jahren rückläufig ist und die Stadtverwaltung das Problem mit Sterilisierungsprogrammen adressiert, ist es nach wie vor nicht unüblich, morgens von Hundegebell geweckt zu werden. Der stetig steigende Energiebedarf der schnell wachsenden Wirtschaftsmacht Indien ist noch immer nicht ausreichend und flächendeckend im Angebot berücksichtigt. Noch immer zählen Stromausfälle zum Alltag. Hoffnung auf eine regelmäßige heiße Dusche versprechen die vielen Staudammprojekte im Himalaya und der in Verhandlung befindliche Nuklearenergie-Vertrag zwischen Indien und den USA. Mit der schrittweisen Öffnung der Märkte ist zu erwarten, dass sich das Angebot internationaler Spezialitäten weiter verbreitert – ein frisch gebrühter Espresso wäre eine große Bereicherung meines Frühstücks. Frisch gemahlener KaffeeDie großen Instant-Kaffee-Marken haben bereits gute Voraussetzungen für eine weite Akzeptanz beim Verbraucher geschaffen. Täglich werden in Indien x-Tausend neue Fahrzeuge zugelassen und das 100.000-Rupien-Auto macht ‘Auto-Mobilität’ auch für die Mittelschicht immer interessanter. Der rapide Wandel der Verkehrslandschaft wird sich vermutlich in zweierlei Hinsicht auswirken: Für den öffentlichen Personentransport ist duch den zunehmenden Individualverkehr eine deutliche Entlastung zu erwarten. Die Zeiten dicht gedrängter Busfahrten sehen ihrem Ende entgegen. Andererseits wird es durch die zunehmende Verkehrsdichte zu neuen Problemen kommen – Feinstaub, CO2-Emissionen, Staus. Soll das Fahrrad, das in Indien noch viel zu oft mit Armut und als billiges Transportmittel mangels erschwinglicher Alternative angesehen wird, nicht komplett dem motorisierten Verkehr geopfert werden, ist der Auf- und Ausbau einer alternativen Infrastruktur in Form von Radwegen unabdingbar…“

Nach diesem recht langen Text bin ich noch nicht einmal im Büro angelangt. Die Beschreibung der indischen Arbeitswelt, der üblichen Mittagspausengestaltung, des Speisenangebots etc. würde auch nach vielen Seiten nur oberflächlich die Wirklichkeit reflektieren. Realität ist komplex und ihre Beschreibung immer subjektiv. Bestenfalls intersubjektiv.

Schon die Themenauswahl ist eine Wertung. Langeweile, Überforderung oder das Hinterfragen der jounalistischen Qualität – die Lesermeinungen werden sich spalten. Mein Alltag ist nicht dein Alltag. Also wähle ich als Alternative den Schnappschuss, im Idealfall das Streiflicht. Interessante Themen, die sich als klassische Nachricht nicht qualifizieren – keine Prominenten, keine direkte drängende Aktualität, kein breitentaugliches Interesse. Das ganze in greifbarem Umfang – dieser Text soll der längste bleiben. Eine lose Kombination aus Unterhaltung, Banalität und Hintergrundbericht. Ohne Furcht vor unangenehmen Themen. Und mit einem Fragezeichen, das zum Nachdenken und zur Diskussion einlädt.

Wer eine bessere Idee hat, soll erst mal seinen Alltag beschreiben.